Als die verwitwete Krämerin Johanna eineinhalb Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes wieder heiratete, dachte sie eigentlich, sie hätte eine gute Entscheidung getroffen:
Wie so viele Frauen in ihrer Situation hatte sie den ältesten und erfahrendsten Gesellen ihres verstorbenen Mannes geheiratet.
Und im Großen und Ganzen hatte ihr neuer Mann ihr auch keinen Grund gegeben, diese Wahl zu bereuen.
Benno war ehrlich und arbeitete hart.
Sie kannte ihn und konnte ihm vertrauen.
Er kannte das Geschäft, hatte jahrelang für den alten Meister gearbeitet und nach dessen Tod mit ihr gemeinsam den Laden geführt.
Er behandelte sie mit Respekt und verhielt sich ihr gegenüber treu.
Aber an Tagen wie heute kam das eine große Problem mit ihm an die Oberfläche:
Benno hatte sich einfach noch nicht daran gewöhnt, dass er seit der Hochzeit kein Geselle mehr war, sondern ein Meister.
Das Oberhaupt eines Haushaltes und ein Bürger der Stadt.
Und dass damit eine gewisse Pflicht einherging, sich standesgemäß zu verhalten und zu kleiden, um keinen schlechten Ruf auf sich, seine Frau, die Zunft und die Bürgerschaft zu bringen.

Heute etwa war Benno gerade vom Jahrmarkt in der nächsten Nachbarstadt zurückgekommen.
Er hatte dort neue Waren für den Laden eingekauft. So weit, so normal.
Jetzt aber musste Johanna mit ansehen, wie er die in Säcke verpackten Waren einen Sack nach dem Anderen persönlich auf der Straße aus dem Wagen lud, auf seine Schulter wuchtete und durch das große Hoftor ins Lager brachte.
Weil es ein heißer Tag war, hatte er sich sogar seines Obergewandes entledigt und arbeitete im bloßen Hemd!
So hatte er das als Geselle all die Jahre über gemacht, wann immer der Meister oder er mit neuen Waren vom Markt zurück kamen.
Aber er war kein Geselle mehr und das musste er endlich lernen!
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Für einen Meister der Krämerzunft gehörte es sich nicht, in der Öffentlichkeit Lasten auf den Schultern oder dem Rücken zu tragen, wie ein gemeiner Träger oder gar ein Hausierer!
Was sollten denn die Nachbarn und die anderen Brüder und Schwestern der Zunft denken?
Sollten sie etwa glauben, dem Geschäft ginge es so schlecht, dass sie sich nicht mal den Pfennig Lohn für einen Träger leisten konnten?
Oder sollten sie glauben, Johanna und Benno seien so geizig, dass sie die Träger lieber um die Möglichkeit brachten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, nur um sich einen Pfennig zu sparen?
Oder sollten einige, die Benno nicht kannten, ihn gar mit einem fahrenden Hausierer verwechseln, der mit seinen Waren auf der Schulter von Haus zu Haus zog?
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Und dann erst die Kleidung!
Als Meister war er laut den Statuten der Zunft ausdrücklich verpflichtet, das Haus oder den Marktstand nicht ohne eine dritte Schicht über Hemd und Obergewand zu verlassen.
Ob es sich bei dieser dritten Schicht um einen Mantel, ein Übergewand oder beides handelte, als Bürger und Meister waren sie verpflichtet, sich mit ihrer Kleidung von der Masse der Knechte, Mägde und Dienstboten abzuheben und mit ihrer Kleidung ihre gehobene Position sichtbar zu machen… zu ihrem Ansehen, dem der Zunft und dem der Bürgerschaft.
In der Öffentlichkeit nur im Hemd, ohne Obergewand, herumzulaufen, war selbst für die Dienerschaft nur bei schweren körperlichen Arbeiten akzeptabel. Bauarbeiter oder Ackerknechte bei der Ernte arbeiteten nur im Unterhemd… aber doch kein Meister, Hausherr und Bürger!
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Johannas eigene Kleidung erfüllte die Anforderungen des von ihrem Stand erwarteten öffentlichen Auftretens perfekt:
Trotz des warmen Wetters trug sie nicht nur ein Überkleid mit Dreiviertelärmeln über ihrem Kleid, sondern zusätzlich noch einen leichten Sommermantel.
Ihre Haare züchtig mit einer Beutelhaube bedeckt, trug sie darüber das Gebende, zwei Streifen aus weißem Leinen, einen über Kinn, Wangen und Scheitel und einen waagerecht über Stirn, Schläfen und Hinterkopf.
Dieses Gebende zeichnete sie für alle sichtbar als verheiratete Frau und damit als Herrin eines Haushaltes aus.
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Und jetzt im Moment musste diese Herrin des Haushaltes das öffentliche Ansehen ihres besagten Haushaltes gegen die Achtlosigkeit und das fehlende Standesbewusstsein ihres neuen Ehemannes verteidigen.

„Na also, geht doch!“
Nachdem seine Frau ihm die Leviten gelesen hatte, hatte Benno sich endlich wieder Standesgemäß angezogen.
Mit einem dünnen Obergewand und einem locker gewebten Mantel, der auch bei diesem warmen Wetter angenehm zu tragen ist.
Nachdem er wieder vollständig bekleidet war, hatte er als nächstes einen Träger angeheuert und bezahlte diesem gerade seinen gerechten Lohn für den letzten Sack, der ins Lager musste.
Johanna stand daneben und nickte zufrieden.
Geduld… Sie waren ja erst seit etwa einem Monat verheiratet.
Wenn es ihrem Mann bald gelang, sich an seinen neuen Stand zu gewöhnen und besagtem Stand entsprechend aufzutreten, auch ohne dass sie ihn konstant daran erinnern musste, dann stand ihrer Ehe und ihrem gemeinsamen Geschäft eine blühende Zukunft bevor.