„Geklaute“ christliche Bräuche? – 4 Fragen zum Überprüfen

„Geklaute“ christliche Bräuche? – 4 Fragen zum Überprüfen

Man liest oder hört oft die Behauptung, bestimmte heutzutage von Christen (oder in Kulturen mit christlichen Wurzeln) praktizierte Bräuche (ob komplette Feste wie Weihnachten oder einzelne Bräuche wie Ostereier) seien ja ursprünglich heidnisch gewesen.

Die Kirche hätte bei der Christianisierung Bräuche und Feste, die so populär waren, dass man sie nicht einfach verbieten konnte, einfach mit einer neuen christlichen Bedeutung versehen, um den Leuten zum Einen den Übergang zum Christentum einfacher zu machen und zum Anderen die Verbindung zum alten Glauben zu trennen, die diese Bräuche bildeten.

Wir haben hier schon über mehrere konkrete Beispiele gesprochen, bei denen diese Behauptung nicht mit der historischen Quellenlage in Einklang zu bringen ist.

Aber heute möchte ich euch 4 Fragen an die Hand geben, mit denen ihr selbst prüfen könnt, in wie weit solche Behauptungen angesichts der Quellenlage wahrscheinlich sind oder nicht.

.

1.)

Gibt es irgendwelche belastbaren Nachweise dafür, dass zu der Zeit und in der Kultur, von der die Christen den Brauch angeblich übernommen haben sollen, solch ein Brauch überhaupt existierte?

Denn es muss ja erstmal ein „ursprünglicher heidnischer“ Brauch da sein, damit die Kirche ihn überhaupt übernehmen *kann*.

(Zum Beispiel feierten zu der Zeit, als sich unter den römischen Christen der 25. Dezember allgemein als Geburtsdatum Jesu durchsetzte, weder Römer noch Germanen den 25. Dezember irgendwie mit einem besonderen Fest, das die Christen hätten „übernehmen“ oder „stehlen“ können.

Es gibt keinerlei Nachweise für ein Frühlingsfest zu Ehren der Göttin Ostara, das irgendetwas mit Eiern oder Hasen zu tun gehabt hätte.

Und das Irische Samhain war kein Totenfest, hatte nichts mit „verkleidet von Haus zu Haus gehen und Gaben fordern“ und schon gar nichts mit Kürbis- oder Rübenlaternen zu tun.)

.

2.)

Gibt es belastbare Nachweise dafür, dass der christliche Brauch, der angeblich von einem Brauch einer vorchristlichen Kultur übernommen worden sei, tatsächlich zu der Zeit entstand (und in dieser Kultur eingeführt wurde), als diese Kultur Christianisiert wurde?

Denn wenn die Absicht hinter der Übernahme und christlichen Umdeutung eines heidnischen Brauches darin besteht, die heiden leichter und gründlicher zum Christentum bekehren zu können, dann muss dieser „übernommene und umgedeutete“ christliche Brauch ja auch genau auf dem Gebiet dieser Kultur und zu der Zeit, als die das Christentum annimmt oder gerade angenommen hat, das erste Mal nachweisbar sein. Sonst funktioniert ja die ganze Erzählung nicht.

(Zum Beispiel wird Allerheiligen erst im 9ten Jahrhundert auf den 1. November gelegt, als die Iren, von deren Samhain-Fest der Brauch angeblich übernommen sein soll, schon seit 400 Jahren so dermaßen gründlich christianisiert sind, dass sie selbst Missionare durch halb Europa senden und andere Kulturen christianisieren.

Und in Irland kommt dieser neue Termin für Allerheiligen sogar erst im 12ten Jahrhundert an. ganze 700 Jahre nach der Christianisierung.

Weihnachtsbaum und Osterhase kommen ebenfalls erst Jahrhunderte nach der Christianisierung von Römern und Germanen das erste Mal auf.)

.

3.)

Gibt es eine andere Erklärung, wie diese heutigen Bräuche entstanden sind, die viel besser belegt ist, viel mehr Sinn ergibt und viel weniger Spekulation erfordert (und damit nach Ockhams Rasiermesser sehr viel wahrscheinlicher ist)?

Das Paradebeispiel hierfür ist Ostern, das in der Tat von einem älteren, nichtchristlichen Fest abstammt… nämlich vom jüdischen Pessach, das Jesus und seine Jünger beim „letzten Abendmahl“ gemeinsam feierten, an dessen erstem Tag er gekreuzigt wurde und an dessen drittem Tag er dem christlichen Glauben nach wiederauferstand.

Auch wie der Termin des Weihnachtsfestes entstand, können wir ziemlich gut nachweisen. Hippolyt von Rom berechnete im frühen dritten Jahrhundert das Todesdatum Jesu und kam auf den 25. März.

Damals gab es im Mittelmeerraum die verbreitete Vorstellung, dass bedeutende Personen am selben Datum gezeugt wurden, an dem sie auch sterben würden, also wurde Jesus nach dieser Vorstellung auch am 25. März gezeugt… und logischerweise 9 Monate später, am 25. Dezember, geboren.

Der Termin von Weihnachten hängt also nicht mit der Wintersonnenwende zusammen, sondern über 3 Ecken mit dem Termin des jüdischen Pessachfestes, der sich an der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche festmacht.)

.

4.)

Gibt es belastbare Nachweise dafür, dass die angeblich „ursprünglichen heidnischen“ Bräuche, welche die Christen angeblich übernommen haben sollen, erst in jüngerer Zeit aus ideologischen Gründen als angeblicher Ursprung christlicher Bräuche erfunden wurden?

(Jakob Grimm hat sich zum Beispiel auf Basis der von Beda vermuteten angelsächsischen „Eostre“ die Frühlingsgöttin Ostara ausgedacht, mitsamt der Idee, zu ihren heiligen Symbolen hätten Hasen und Eier gehört.

Und über die angeblich „ursprünglichen heidnisch-germanischen“ Julbräuche zur Weihnachtszeit, die von den Nazis erfunden wurden, hatten wir ja schon einen eigenen Beitrag.)

.

Die allermeisten Behauptungen von angeblich „heidnischen“ Wurzeln christlicher Bräuche scheitern bereits an der ersten oder zweiten Frage.

Jetzt habt ihr das notwendige Handwerkszeug, um solche Behauptungen selbst einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Beginnt zu recherchieren. Sucht nach Primärquellen.

Wann genau ist dieser Brauch das erste Mal nachgewiesen? Wo stammt diese Behauptung her? Auf welche Quellen stützt sich das?

Hinterlasse einen Kommentar