Chorherren – Domherren – Kanoniker

Die Mehrzahl der kleinen Kirchen auf dem Land und in den Städten hatte um 1300 wenn überhaupt einen fest zur Kirche gehörenden Priester. Sehr oft musste sogar ein Priester mehrere Kirchen betreuen.

In den wirklich großen und bedeutenden Kirchen aber war wiederum ein einzelner Priester nicht im Ansatz ausreichend.

Es musste ja nicht nur das sonntägliche Hochamt für die Gemeinde begangen werden, sondern auch unter der Woche wollten die Menschen an diesen Kirchen einen Gottesdienst besuchen können.

Zudem erwarteten die zahlreichen Gemeindemitglieder regelmäßig die Möglichkeit, die Beichte abzulegen, seelsorgerische Betreuung zu erhalten und sonstige Sakramente zu empfangen.

Dazu nahmen Kirchen oft auch notarielle Aufgaben wahr, verfassten und beglaubigten Urkunden, bewahrten diese sicher auf und stellten sie wieder zur Verfügung, wenn es zu Uneinigkeiten um ihren Inhalt kam. Oft las der Kleriker den beiden Parteien den Inhalt der Urkunde sogar vor, wenn eine oder beide Parteien nicht schriftkundig waren.

Dazu wurden in einer mittelalterlichen Kirche neben dem großen feierlichen Gottesdienst mit „Publikum“ (Dem Hochamt) auch noch eine ganze Menge weiterer Messen gelesen.

Wenn ein Spender oder Stifter der Kirche eine gewisse Menge Geld, Land oder sonstige Güter übertrug, erwartete er dafür als Gegenleistung meist eine gewisse Anzahl von Messen, die in der Kirche für sein Seelenheil, das seiner Familie oder das eines lieben Menschen gehalten werden sollten.

Bei diesen Messen handelte es sich dann nicht um das sonntägliche Hochamt mit der Gemeinde als Publikum, wie die Meisten, die hin und wieder mal einen Gottesdienst besuchen, es heute noch kennen.

Stattdessen stellte sich hierfür einer der zur Kirche gehörenden Priester an einen der Nebenaltäre und begann dort, die für die Messe notwendigen Gebete, Gesänge und Ritualhandlungen durchzuführen.

Das ging deutlich schneller als der große Gottesdienst mit Beteiligung der Gemeinde, war aus Sicht der damaligen Gläubigen aber nicht weniger wirksam für das Seelenheil der Menschen, die dieser Messe beiwohnten oder sie gestiftet hatten.

Und zusätzlich zu diesen Messen für einen Stifter gab es in einer großen Stadt auch noch eine Menge kleinerer Gemeinschaften (Zünfte, Bruderschaften, bedeutende Familien…) die regelmäßig einen gemeinsamen Gottesdienst in „kleinerer Runde“ unter sich feiern wollten.

Als Gedenken an verstorbene Mitglieder der Gemeinschaft, als Fürbitte für kommende gemeinsame Vorhaben, oder auch einfach nur als regelmäßige, gemeinschaftsstiftende Veranstaltung.

Auch hierfür wurden die Nebenaltäre gerne genutzt.

In einer großen bedeutenden Kirche, die eine Menge Stiftungen und Spenden erhielt, musste eine Menge solcher Gottesdienste jeden Tag abgehalten werden… unmöglich für einen einzigen Priester.

So bildete sich eine Gemeinschaft von Priestern an der Kirche (Domherren, Chorherren oder Kanoniker genannt), deren Zusammenleben auf verschiedenste Arten organisiert sein konnte.

Der heilige Augustinus von Hippo hatte für die an seiner Bischofskirche zusammenlebenden Kleriker eine Regel verfasst, die unter Karl dem Großen für alle gemeinschaften von Priestern, die nicht zu einem Mönchsorden gehörten, verpflichtend wurde (ebenso wie die Benediktsregel für Mönchs- und Nonnengemeinschaften).

Diese Regel war aber in vielen Pukten sehr vage gehalten und erlaubte ganz bewusst eine Menge Anpassungen an lokale Bedürfnisse und Gewohnheiten.

Und manche Kanonikergemeinschaften entfernten sich in ihrer Lebensrealität so stark von der Augustinusregel, dass man ab dem 11ten Jahrhundert in „regulierte“ und „nichtregulierte“ Kanoniker unterschied.

Wobei selbst bei den „regulierten Kanonikern“ immense Unterschiede bestanden, wie genau das Zusammenleben und der Alltag der Domherren aussah.

Die Gemeinschaft der Geistlichen einer Kirche nannte sich meist „Domstift“ oder „Domkapitel“.

Manche Kanonikerstifte waren so locker organisiert, dass die einzelnen Kanoniker ihre eigenen Häuser innerhalb der Stadt bewohnten, mit eigener Dienerschaft und einem festen Anteil an den kirchlichen Pfründen (den regelmäßigen Einnahmequellen der Kirche, etwa Landbesitz, Zollrechte oder Renten) als privates Einkommen, über das sie frei verfügen konnten.

Hier waren die einzelnen Chorherren nur zum gemeinsamen Stundengebet und zur gemeinsamen Einnahme zumindest der Hauptmahlzeit des Tages verpflichtet (wobei sie sich von diesen Pflichten befreien lassen konnten, wenn sie wichtige Pflichten für das Stift zu erledigen hatten).

In anderen Chorherrenstiften lebten die Mitglieder in einem klosterähnlichen Gebäudekomplex direkt an der Kirche zusammen und gingen einem deutlich geregelteren Tagesablauf nach.

Hier gab es dann auch immer noch Diener, diese gehörten aber zur Gemeinschaft als Ganzes und waren keine persönlichen Bediensteten einzelner Stiftsmitglieder.

Auch die Pfründe des Stiftes wurden hier von der gesamten Gemeinschaft zusammen genutzt und verwaltet.

Jedes Mitglied erhielt aus den Einnahmen das, was die Gemeinschaft für notwendig und sinnvoll erachtete.

Und natürlich gab es alles zwischen diesen beiden Extremen.

Die wohl extremste Ausprägung des Kanonikerwesens stellte der Orden der Prämonstratenser (auch als Norbertiner bekannt) dar, welcher sich im 12ten Jahrhundert gründete und dessen Mitglieder nicht mehr an großen städtischen Kirchen lebten, sondern auf dem Land in Gemeinschaften, die sich kaum von einem Kloster unterschieden („Konvente“ genannt) und einen Habit trugen, der dem vieler zeitgenössischer Mönchsorden ähnelte.

Von Mönchen unterschieden sie sich eigentlich nur noch dadurch, dass sie sich nicht von der Außenwelt abschotteten, sondern ihre Gemeinschaft in sehr viel größerem Ausmaß der Öffentlichkeit zugänglich machten, als es bei den meisten Mönchsorden üblich war, und oft sogar Pfarrstellen im Umland ihres Konvents übernahmen, die aufgrund der geringen zur Pfarre gehörenden Pfründe oft lange unbesetzt geblieben waren.

Abgesehen von den Prämonstratensern trugen die meisten Chorherren als Zeichen ihres Standes über einem knöchellangen Gewand (das je nachdem, wie viel Wert die jeweilige Stiftsgemeinschaft auf das Armutsideal legte, von einer schlichten Tunika aus ungefärbtem Wollstoff bis zu einem Gewand aus Seidendamast mit Pelzfutter nach der neuesten Mode geschnitten reichen konnte) ein leinernes Chorhemd und einen Chormantel (welcher wiederum je nachdem, wie streng das Kapitel es mit der Armut hielt, von der schlichten, aus schwarzem Wollstoff gefertigten „Cappa Nigra“ bis hin zu aufwändig mit Stickereien und Goldbesatz verzierten Mänteln aus Damast und Brokat reichen konnte. Mit allen denkbaren Stufen dazwischen.).

Dies war die Kleidung, die allgemein von Geistlichen beim Stundengebet und bei der Spende von Sakramenten getragen wurde.

Nur bei der Messe trug der Hauptzelebrant (also derjenige, der die Wandlung von Brot und Wein am Altar durchführte) die volle liturgische Kleidung aus Alba, Amikt, Cingulum, Stola, Manipel und Kasel.

Aber Chorherren trugen diese Kleidungsstücke eben nicht nur bei diesen Anlässen, sondern standardmäßig als Standesabzeichen in der Öffentlichkeit.

Anstatt des Chormantels konnten Kanoniker noch das so genannte „Almutium“ tragen. Zunächst eine Kopfbedeckung aus schwarzem oder dunklem Wollstoff, mit Lammfell gefüttert, die tief in den Nacken und sogar über den Rücken reichte, später oft eine innen und außen aus teurem Pelz gefertigte Gugel (eine Kapuze mit Schulterkragen also).

Beide Formen des Almutiums waren oft so geschnitten, dass sich oben an der Kapuze kleine oder auch größere „Öhrchen“ bildeten. Deren Form konnte von eher runden „Teddybärenohren“ bis zu dreieckigen „Katzenohren“ reichen.

Neben dem gemeinsamen Stundengebet, dem Lesen von Messen, dem Spenden von Sakramenten und der Seelsorge übernahmen die Chorherren auch eine Vielzahl von Verwaltungsaufgaben und sogar diplomatische Missionen für ihre Kirche.

Darüber hinaus hatten viele von ihnen ein ausgiebiges Studium hinter sich (natürlich in Theologie, aber auch oft in den anderen Fächern) und forschten, studierten und schrieben auch als Chorherren noch weiter.

Somit waren sie gefragt als Berater, als Experten zu verschiedenen Themen und als Lehrer.

Oft unterhielt das Kapitel eine „Domschule“ an der die Kinder der städtischen Ober- und gehobenen Mittelschicht ausgebildet wurden.

Die meisten Kirchen, die groß genug waren, um ein Domkapitel zu bilden, waren Bischofs- oder zumindest bedeutende Pfarrkirchen… aber nicht immer. Es gab durchaus Kirchen, die groß und bedeutend genug geworden waren, um eine gemeinschaft an Kanonikern zur Bewältigung ihrer Aufgaben zu benötigen, aber dennoch aus alten gewachsenen Strukturen heraus keine eigene Pfarre bildeten, sondern zu einer anderen Pfarre gehörten (deren Pfarrkirche sogar deutlich kleiner sein konnte, aber eben alt genug war, um nach alter Gewohnheit das Pfarrecht über alle Kirchen in einem bestimmten Gebiet innezuhaben).

Ob es aber einen Bischof oder Pfarrer an der Kirche gab, oder sie der Autorität eines Pfarrers von außerhalb unterstand:

Die Gemeinschaft des Domkapitels wählte aus ihrer Mitte einen Leiter, der sie nicht nur im Innreren führen, sondern auch die Interessen und Rechtsansprüche der Gemeinschaft nach Außen und gegenüber dem Bischof oder dem zuständigen Pfarrer vertreten sollte.

Dieser Leiter wurde für gewöhnlich als „Domprobst“ bezeichnet.

Theoretisch war es absolut möglich für jemanden, der aus einfachen Verhältnissen stammte, sich erst die Grundlagen der lateinischen Sprache anzueignen, dann ein Studium der freien Künste und schließlich der Theologie an einer Universität oder Domschule abzuschließen und sich dabei so sehr hervorzutun, dass ein Domkapitel ihm eine Stelle als Chorherr anbot. Und hin und wieder gibt es sogar tatsächlich historische Belege für solche Tellerwäscherkarrieren innerhalb der Kirche… Aber in der Realität waren es meist die nachgeborenen Söhne des Adels und des Wohlhabenden Bürgertums, die (oft im Gegenzug für eine großzügige Spende) eine Stelle im Domkapitel erhielten, um ihnen so ein Standesgemäßes Auskommen und eine Karriere zu ermöglichen, auch wenn sie nicht den Landbesitz, die Titel und Ämter oder das Geschäft der Familie erbten.

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