Von „zivilisierten“ und „weniger zivilisierten“ Kulturen… und warum wir diese Unterscheidung nicht mehr machen

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Ich verfolgte vor einiger Zeit eine englischsprachige Diskussion darüber, warum Historiker*innen und Archäolog*innen das Frühmittelalter nicht mehr als „the dark ages“, also „die finstere Zeit“ bezeichnen.

Weil das ein wertender Begriff ist, welcher zudem der komplexen Realität der Epoche nicht gerecht wird.

Sehr viele Kommentierende aber bestanden darauf, es sei doch völlig richtig, von einer finsteren Zeit zu reden, weil das zivilisatorische Niveau verglichen mit der römischen Antike so weit gefallen sei.

Aber was genau ist das, dieses „zivilisatorische Niveau“? Und wieso ist eine Zeit oder eine Kultur mit einem „geringeren zivilisatorischen Niveau“ „finsterer“ oder „schlechter“ als eine Zeit oder eine Kultur mit einem „höheren“?

(Ja, ich packe hier eine Menge Begriffe in Anführungszeichen. Das halte ich bei diesem Thema leider für notwendig.)

Das Wort „Ziviliation“ leitet sich aus dem lateinischen „civitas“ („Stadt“) ab.

Und genau darin liegt auch seine Bedeutung:

Eine „zivilisiertere“ Gesellschaft unterscheidet sich von einer „weniger zivilisierten“ durch:

-Eine höhere Bevölkerungsdichte

-Eine Ballung eines möglichst großen Teils der Bevölkerung in großen Städten, die zugleich als Regierungs-, Verwaltungs- sowie Wirtschaftszentren fungieren.

-Daraus resultierend ein hohes Maß an Arbeitsteilung

-Ein hohes Maß an gesellschaftlicher Differenzierung (klar voneinander getrennte Klassen, Kasten oder Stände, die sich in eine straffe Rang- und Hackordnung einfügen)

-Ein hohes Maß an politischer und wirtschaftlicher Zentralisierung

-Eine zentralisierte, komplexe und straffe Verwaltungsstruktur.

-Möglichst umfangreiche und komplexe, von der Zentralregierung errichtete und unterhaltene, Infrastruktur

-Ein hohes Maß an möglichst imposanten öffentlichen Großbauprojekten

-Ein Bestreben, ein Imperium zu errichten, die eigenen Grenzen auszudehnen, die Nachbarn zu erobern und zu unterwerfen.
Und möglichst großer Erfolg bei besagtem Bestreben.

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Je mehr dieser Merkmale eine Kultur aufweist und in je größerem Ausmaß, als um so „zivilisierter“ wird sie betrachtet.

Es ist kein Zufall, dass „zivilisiert“ anhand dieser Liste an Merkmalen gleichbedeutend ist mit „unserer eigenen Kultur möglichst ähnlich“.

Diese Vorstellung von „Zivilisation“ beginnt bei den alten Griechen und Römern, die die Welt ebenfalls in „ziviliserte“ Völker einteilten, deren Gesellschaft ähnlich aufgebaut war, wie ihre eigene, mit der Polis oder Civitas, der Stadt also, als Zentrum… und in unzivilisierte, „barbarische“ Völker, die anders lebten, als die „zivilisierte“ helenistisch-römische Welt.

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Diese Definition von „Zivilisation“, nach der ein geringeres Maß an Zentralisierung, Bevölkerungsdichte und -Ballung, Arbeitsteilung, komplexer Verwaltung, Infrastruktur, öffentlichen Großprojekten und Imperialismus nicht einfach als „anders“, sondern als „minderwertiger“, „schlechter“, „weniger zivilisiert“ gesehen wird, hat sich in der Geschichte und im Blick mächtiger „zivilisierter“ Reiche auf andere Kulturen als extrem hartnäckig und schädlich erwiesen.

Manchmal wird statt „weniger zivilisert“ von „weniger fortschrittlich“ oder sogar „weniger weit entwickelt“ gesprochen.
Ein hohes Maß an „Zivilisation“ nach den obigen Maßstäben wird also als der logische Endpunkt einer Entwicklung gesehen, die eigentlich jede Kultur anstreben muss und sollte.

Wenn eine Kultur nach dieser Vorstellung nicht so „zivilisiert“ ist, wie wir, dann nicht etwa aus logischen, nachvollziehbaren Gründen, weil es unter den Rahmenbedingungen, unter denen sie existiert, einfach am sinnvollsten ist… sondern ausschließlich, weil sie nicht in der Lage dazu sind, weil sie noch nicht so weit „fortgeschritten“ oder halt einfach zu „primitiv“ sind.

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Es ist genau diese Vorstellung von Zivilisation, die in der Vergangenheit zur Rechtfertigung von Absolutismus und Imperialismus („nur so können wir ein höheres Maß an Zivilisation erreichen!“) verwendet wurde, ebenso wie zur Rechtfertigung von Kolonialismus und Sklaverei („Wir bringen diesen Leuten die Zivilisation! Die müssen unter unserer Herrschaft und Führung erstmal lernen, wie man ziviliert ist, bevor wir sie als gleichrangig behandeln können.“).

Und es ist diese Vorstellung von Zivilisation, die heute noch Rassismus befeuert („Diese Leute können sich doch gar nicht in unsere Gesellschaft integrieren! Dafür ist die Kultur, aus der sie kommen, doch noch viel zu rückständig!“) und dafür sorgt, dass Menschen entgegen ihrer eigenen Interessen nationalistische und imperialistische Diktatoren unterstützen („Der hat uns wieder stark gemacht! Wir sind wieder wer! Die anderen Länder lachen nicht mehr über uns! Unter dem lassen wir uns nicht mehr herumschubsen!“).

In einem „starken“, „zivilisierten“ Staat mit beeindruckenden Großprojekten und großer Macht über seine Nachbarn zu leben, ist für diese Menschen wichtiger, als bessere Lebensbedingungen und eine gerechtere Gesellschaft.

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Die romantische Verklärung solcher Kulturen durch das Motiv des „edlen Wilden“ ist im Übrigen kein Bisschen weniger rassistisch und herabsetzend.

Man betrachtet andere Kulturen immer noch als „weniger weit entwickelt“.
Als Kinder, die auf dem Weg zum Erwachsenwerden noch nicht so weit sind, wie man selbst.

Aber man unterstellt ihnen dabei eine gewisse, positiv gewertete „kindliche Unschuld“.

„Ja, diese primitiven Wilden sind nicht so zivilisiert wie wir und werden irgendwann die Entwicklung auf unser zivilisatorisches Niveau machen müssen… aber dafür sind sie im Moment auch noch nicht so verdorben und dekadent durch die Verlockungen und Bequemlichkeiten der zivilisierten Welt.“

Das ist immer noch eine unfassbar gönnerhaft-arrogante und ja, rassistische, Betrachtung von oben herab.

Zumal die Kultur, der man das Motiv des „edlen Wilden“ überstülpt, ja nicht im Ansatz so dargestellt wird, wie sie tatsächlich ist, sondern als ein so verzerrtes und in weiten Teilen frei erfundenes Abbild ihrer Selbst, das zu der Botschaft und den Bildern passt, die man vermitteln möchte.

Die Kultur bekommt die positiven Eigenschaften zugeschrieben, für die man werben möchte, und steht im Kontrast zu all dem, was man an der eigenen „zivilisierten“ Kultur kritisieren will.

Man interessiert sich nicht für die Kultur an sich, sondern nutzt sie lediglich als Handpuppe, der man die gewünschte Botschaft in den Mund legt.
Zusätzlich zu oben beschriebenem Rassismus, der durch die gönnerhafte Zuschreibung einer „kindlichen Unverderbtheit“ nicht weniger rassistisch wird.

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Zurück zum frühen Mittelalter:

Was ist das Problem damit, diese Zeit „the dark ages“ zu nennen?

Mit dem Ende des römischen Reiches im Westen gingen die zentralisierten Regierungs- und Verwaltungsstrukturen dieses Reiches verloren.

Keine Zentralregierung trieb mehr Steuern ein, bezahlte damit ein stehendes Heer oder den Erhalt beziehungsweise die Neuerrichtung von Infrastruktur, kontrollierte Handel und Wirtschaft oder erließ Gesetze und sorgte für deren Einhaltung.

All diese Dinge mussten nun von den unzähligen kleinen lokalen Grundherrschaften geleistet werden, die auf dem Boden des alten Imperiums entstanden waren.

Mit politischer Macht und wirtschaftlichen Mitteln nicht mehr zentral gebündelt, sondern über eine verhältnismäßig große Schicht kleiner Machthaber verteilt, war natürlich keiner davon in der Lage, beeindruckende Großprojekte wie Aquaedukte oder das Forum Romanum zu errichten.

Die Bevölkerung hatte bereits vor dem Fall des Westreiches drastisch abgenommen und der Handel mit Getreide und anderen Gütern des täglichen Bedarfs war zusammengebrochen.

Die alten römischen Städte, die sich nie selbst hatten ernähren können, sondern auf die Versorgung mit Handelsgütern angewiesen waren, schrumpften zu Dörfern herab, die innerhalb der alten Mauern Felder anlegten und ihre Häuser zwischen den Ruinen bauten.

Dadurch, dass die kleinen Siedlungen sich nun größtenteils selbst versorgen mussten, nahm logischerweise auch der Grad an Arbeitsteilung und Spezialisierung ab.
Die meisten Haushalte mussten sich nicht nur selbst ernähren, sondern auch die Dinge des täglichen Bedarfs selbst herstellen.

Auch die Wissenschaften konnten nicht mehr in dem Ausmaß gefördert werden, wie zuvor.

Die einzige Instanz, die aus der Antike ein Europa umspannendes, (vergleichsweise) straffes und zentralisiertes Verwaltungsnetzwerk bewahrt hatte, war die Katholische Kirche, die dementsprechend auch Teile der gerade beschriebenen staatlichen Aufgaben übernommen hatte.

Die Förderung der Wissenschaften, Großbauprojekte und auch die Schaffung von Verwaltungs- und Kommunikationsstrukturen, die von der weltlichen Macht genutzt werden konnten, um ihre eigenen Herrschaftstrukturen daran anzuknüpfen, sowie soziale Aufgaben wurden nun größtenteils von der Kirche übernommen, mit Bischofssitzen und Klöstern als wichtigen Zentren.

Dennoch kann nicht bestritten werden, dass der Grad an „Zivilisation“ (nach der oben beschriebenen Definition) mit dem Fall des römischen Reiches drastisch abnahm.

Warum also sollte es falsch sein, diese Ära, die so viel weniger „zivilisiert“ war, als die Antike vor ihr, als „finster zu bezeichnen?

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Zum Einen war der Zusammenbruch der römischen Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen, der Handelsnetze und Infrastruktur, der Bevölkerungsschwund, das verkommen von großen Städten zu Dörfen inmitten von Ruinen und der verlust von Büchern und Wissen nicht plötzlich geschehen, sondern über einen langen Prozess, dessen Abschluss die Abdankung des letzten weströmischen Kaisers 476 war.

Es war nicht so, dass Rom wenige Jahre oder Jahrzehnte vorher noch ein strahlendes Imperium mit blühenden marmornen Städten war, in denen Wohlstand und Frieden herrschte, Bildung und Wissenschaft, sowie Wirtschaft und Handel blühten, die Infrastruktur funktionierte und überall neue beeindruckende Bauwerke mit marmornen Säulen gebaut wurden… und dann plötzlich die barbarischen Eroberer kamen und kurz darauf alles in Ruinen lag.

Roms Abstieg war langsam gewesen, durchbrochen von Phasen der Stabilisierung und sogar des teilweisen Wiederaufbaus… aber der Gesamttrend ging in der Spätantike nach den Krisen des 3. Jahrhunderts meist bergab.

Als der letzte Kaiser Romulus Augustulus entthront wurde, bestand das weströmische Reich nur noch aus Italien und einigen Gebieten in Nordafrika, Nordfrankreich und dem Balkan, über die der Kaiser aber auch nur noch in sehr sehr begrenztem Ausmaß direkte Kontrolle hatte.

Diese Zeit des Niederganges war zudem geprägt von Bürgerkriegen, Invasionen, Aufständen, Seuchen, Hungersnöten, Unwettern und allen denkbaren anderen Katastrophen.

Dennoch nennen wir nicht die Spätantike „the dark ages“, sondern die Zeit, die nach dem langsamen Niedergang und Verfall der römischen Strukturen kam, als die neuen Machthaber begannen, aus den Ruinen Roms alles Verwertbare zu sammeln und langsam etwas neues zu bauen.

Zudem sich der Fall Roms in unterschiedlichen Teilen Europas völlig anders auswirkte.

In Britannien (wo der Begriff „dark ages“ für die ersten Jahrhunderte des Frühmittelalters herkommt) brach mit dem Rückzug der Legionen tatsächlich von Heute auf Morgen die alte Ordnung zusammen und eine Zeit von internen Machtkämpfen und Invasionen begann.

In Italien hingegen wurde Odoaker, der den letzten Kaiser entmachtet hatte, seinerseits recht schnell von Theoderich gestürzt, der von seinen Zeitgenossen (und auch das gesamte Mittelalter hindurch) als Erneuerer römischer Ordnung und Kultur gesehen wurde, der endlich wieder über längere Zeit für Stabilität und Frieden sorgte.

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Der zweite Punkt ist der, dass wir eine „weniger zivilisierte“ (nach der oben beschriebenen Definition) Gesellschaft grundsätzlich als „schlechter“ ansehen.

Wir gehen davon aus, dass in einer Gesellschaft, die weniger zentralisierte Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen hatte, weniger Arbeitsteilung und Spezialisierung, eine weniger steile Hackordnung, geringere Bevölkerungsdichte und geringere Ballung der Bevölkerung in städtischen Zentren sowie weniger öffentlich errichtete und unterhaltene Infrastruktur und Großbauprojekte, automatisch auch mit schlechteren Lebensbedingungen für die in dieser Gesellschaft lebenden Menschen einhergehen MUSS.

Das Problem ist nur: Ganz so einfach ist es nicht.

Für die meisten Menschen, die auf dem ehemaligen Gebiet des weströmischen Reiches lebten, änderte sich mit der Abdankung des letzten Kaisers nicht viel.

Wie gerade beschrieben: All die Dinge, die wir heute so typisch für die „dark ages“ ansehen, waren ja langsam und über Jahrhunderte gekommen und für die Menschen schon lange der Normalzustand unter dem sie aufgewachsen waren.

Tatsächlich sehen viele heutige Historiker die Entscheidung einiger spätantiker Kaiser, mit dem Bau von Großprojekten in Rom und anderen Städten aufzuhören, eine vernünftige Maßnahme, um knappe Steuergelder zu sparen, die anderswo dringender gebraucht wurden.

Wenn wir heute einen Zeitraum, der vom 3ten bis zum 8ten Jahrhundert nach Christus reicht, als Ganzes betrachten, sehen wir im Imperium und den entstehenden Reichen, die seine Nachfolge antreten wollten, Unmengen an Krisen, Angriffen von Außen, Konflikten im Inneren, Missernten, Unwettern, Seuchen, Hungersnöten… aber wenn wir etwas näher an das Bild heranzoomen, sehen wir, dass diese Krisen zeitlich und räumlich begrenzt waren und die meisten Menschen, die innerhalb dieser 500 Jahre lebten, einen ziemlich langweiligen und ereignisarmen Alltag hatten.

Ob ein fränkischer unfreier Landarbeiter auf einem Hof um 700 wirklich ein so viel schlechteres Leben hatte, als ein römischer Ackersklave auf einer Villa Rustika um 100, darf zurecht bezweifelt werden.

Die oft gelesenen und gehörten Behauptungen, laut denen mit dem Fall Roms eine Zeit begann, in der die Europäer sich jahrhundertelang nicht mehr wuschen, Bier und Wein trinken mussten, weil das Wasser untrinkbar verschmutzt war, oder die katholische Kirche alles antike Wissen vernichtete, dessen sie habhaft werden konnte, und 1000 Jahre lang allen wissenschaftlichen Fortschritt unterdrückte, sind natürlich völliger Unfug, wie oft genug auf diesem Blog erklärt.

Auch die oft gepriesene römische Infrastruktur war etwas, dessen Fehlen nicht unbedingt mit schlechteren Lebensbedingungen für die Menschen einherging.

Dinge wie Aquaedukte oder die großen Abwasser-Kanalysationssysteme waren nur aufgrund der massiven Bevölkerungsdichte in den antiken Städten überhaupt notwendig gewesen.
In den kleinen Dörfern und den Überresten römischer Städte waren sehr viel simplere Einrichtungen zur Versorgung mit Trinkwasser und zur Entsorgung von Abfällen völlig ausreichend.

Abgesehen davon, dass Aquaedukte in einem vereinten Imperium eine gute Idee waren, wo die Grenze und die Front zu möglichen Feinden weit weit weg von allen Gebieten lag, die der Aquaedukt überspannte.
In den zersplitterten Kleinstherrschaften des Mittelalters hätte ein Aquaedukt hingegen das Territorium von einem Dutzend anderen Herren durchschnitten.
Selbst wenn man sich den Bau also irgendwie hätte leisten können, selbst wenn man der Ansicht gewesen wäre, dass es sich lohnt, so etwas zu bauen und selbst wenn man sich mit den Nachbarn, durch deren Gebiet der Aquaedukt läuft, geeinigt hätte, dass man ihn dort bauen darf… wäre das erste, was jeder Gegner im Falle eines Konfliktes getan hätte, gewesen, diese Wasserleitung zu kappen.

Wir sind aus unserer heutigen Sicht so beschäftigt damit, darüber zu sprechen, dass es diese großen beeindruckenden Bauprojekte nicht mehr gab… das wir gar nicht auf die Idee kommen, uns zu fragen, ob es überhaupt Sinn ergab, solche Dinge unter den aktuellen Bedingungen zu bauen.

Kurz:

Wir machen in Bezug auf das frühe Mittelalter genau den selben Fehler, den wir seit spätestens den alten Griechen in Bezug auf aus unserer Sicht „weniger zivilisierte“ Kulturen gemacht haben.

Wir gehen davon aus, dass diese Leute nicht deshalb anders leben, als wir, weil es unter den Bedingungen, denen sie sich gegenüber sehen, am meisten Sinn ergibt, sondern weil sie einfach zu dumm, zu primitiv und noch nicht weit genug entwickelt sind, es „besser“ zu machen… also so, wie wir.

Wir setzen „anders als wir“ mit „schlechter“, „minderwertiger“, „weniger weit entwickelt“ gleich.

Es ist die selbe Denkweise, die uns die frühe Neuzeit als eine Zeit verklären lässt, in der das finstere Mittelalter endlich von der leuchtenden Renaissance abgelöst wurde (dass die Renaissance keine historische sondern eine Kunstepoche ist und teilweise im Spätmittelalter und teilweise in der frühen Neuzeit liegt, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt).

Die Lebensbedingungen, die wirtschaftliche, rechtliche und soziale Stellung der meisten Menschen in Europa wurde im 16ten Jahrhundert verglichen zum Hoch- und Spätmittelalter, um einiges schlechter.

Aber in Europa bildeten sich große, zentralisierte Staaten, die wieder Gebiete außerhalb Europas eroberten und deren Herrscher große Bauprojekte und Kunstwerke finanzierten… also feiern wir diese Zeit als „Wiedergeburt“ von allem, was wir auch an der Antike feiern.

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Und zuletzt zum Punkt, warum es auch für uns heute wichtig ist, ob wir das frühe Mittelalter jetzt als „dark ages“ betiteln, oder nicht.

Ich schrieb ganz oben, dass das hier beschriebene Konzept von „Zivilisation“ verbunden mit der Gleichsetzung von „weniger zivilisiert“ mit „schlechter, weniger weit entwickelt“ in der Vergangenheit zur Legitimation von Absolutismus und Imperialismus, Kolonialismus und Sklaverei diente.

Und dass damit bis heute Rassismus, Hass gegen Geflüchtete und unsere moderne Form des Imperialismus gerechtfertigt werden, ebenso wie Nationalismus und Reaktionismus.

Und wenn wir einfach so akzeptieren, dass das Frühmittelalter eine „finstere Zeit“ war, in der es den Menschen ganz furchtbar ging, weil sie nicht Teil eines großen Reiches mit großen beeindruckenden öffentlichen Bauwerken, großen städtischen Zentren und (proto-)Industrie waren, dann bestärken wir damit, ob bewusst oder nicht, auch die Vorstellung, dass Kulturen und Staaten, die heute nicht diesem von unserer Gesellschaft vorgegeben „Ideal“ entsprechen, ebenfalls inhärent „schlechter“ und „weniger weit entwickelt“ seien, als wir.

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Fazit:

Wir sprechen nicht von mehr oder weniger „zivilisierten“ oder mehr oder weniger „weit entwickelten“ Kulturen, aus dem selben Grund, aus dem die Evolutionsbiologie nicht von evolutionär weiter oder weniger weit entwickelten Spezies spricht.

Die Entwicklung einer Kultur, ebenso wie die Entwicklung einer Spezies, ist kein linearer Prozess in eine vorgegebene Richtung hin zum immer besseren und weiter entwickelten.
Sondern eine Anpassung an die Bedingungen, Umstände und Erfordernisse, mit denen sich eine Kultur oder eine Spezies konfrontiert sehen.

Es gibt auf beiden Gebieten kein „besser“ oder „schlechter“, sondern nur ein „gut oder schlecht an die Bedingungen angepasst“.

Die Idee, eine Kultur als „weiter entwickelt“ oder „zivilisierter“ anzusehen, als eine andere, ist nicht nur geschichtswissenschaftlich falsch… sie bringt auch extrem unschöne und gefährliche Implikationen mit sich.

Die Menschen im frühen Mittelalter lebten nicht in einer Madmax-artigen Dystopie, nur weil sie die Dinge nicht hatten, die wir an Rom so beeindruckend finden und die wir in unserer eigenen Lebenswelt wiedererkennen.

Ihre Art zu leben, war an die veränderten Bedingungen nach dem Fall des Imperiums im Westen angepasst und bei Weitem nicht so schrecklich, wie oft dargestellt.

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Zum Weiterlesen:

https://inforo1300.wordpress.com/2017/05/10/dezentralisierung/
Ein Blogpost darüber, wie der Wegfall der zentralisierten römischen Strukturen das gesamte Mittelalter prägte.

https://going-medieval.com/2019/07/26/on-colonialism-imperialism-and-ignoring-medieval-history/
Historikerin Dr. Eleanor Janega erklärt sehr viel ausführlicher (und sehr viel weniger diplomatisch) als ich hier die problematischen und gefährlichen Implikationen, die sich aus der Vorstellung von den „dark ages“ ergeben.


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