Gesichtsbemalung, Wikinger, „Indianer“ und der „edle Wilde“

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Im populären Klischeebild des „Wikingers“ oder „Germanen“, wie es heute von populären Medien transportiert wird, ist neben möglichst grober Kleidung aus Fell und Leder und möglichst massiven, grobschlächtigen Waffen, auch Gesichtsbemalung ein Element, das nicht mehr wegzudenken ist.

Seien es relativ subtile Striche unter den Augen, ein drei Finger breiter waschbärhafter Streifen quer über beide Augen von Ohr zu Ohr, das halbe Gesicht in schwarze Farbe getunkt, irgendwelche komplexen Muster oder Runen über das ganze Gesicht oder Teile davon gemalt… oder wilde Kombinationen aus allem Genannten.

Zunächst das Grundlegende:

An diesem Look ist, ebenso wie an der Kleidung aus wahllos zusammengetackerten Fell- und Lederfetzen, historisch nichts dran.
Die vorhandenen Quellen geben einfach nichts dergleichen her.

Aber wir wollen uns im Folgenden einmal kurz zwei Quellen anschauen, die immer wieder gerne als vermeintliche Belege für die modern so beliebte „Wikinger“-Gesichtsbemalung angeführt werden und darüber sprechen, warum diese beiden Quellen dieses moderne Bild nicht bestätigen.

Und dann werden wir uns darüber unterhalten müssen, wo dieses Bild vom Wikinger oder dem Germanen mit bemaltem Gesicht denn eigentlich herkommt, wenn die historischen Quellen nichts dergleichen hergeben.

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Von Nachtkämpfern und Lidschatten

Die erste oft genannte Quelle ist die „Germania“ des römischen Autoren Tacitus, um das Jahr 100A.D. Entstanden.

Tacitus berichtet hier unter Anderem von einer Gruppe Krieger eines bestimmten germanischen Stammes, die sich für nächtliche Überraschungsangriffe die Gesichter mit Ruß schwarz färben würden, um besser getarnt zu sein.

Die Germania ist eine Quelle, die für die Germanen zur römischen Kaiserzeit zwar einerseits sehr wichtig ist, einfach weil wir nicht viel anderes an schriftlichen Quellen über die Germanen aus dieser Zeit haben… aber die gleichzeitig mit extremer Vorsicht und Misstrauen behandelt werden muss, weil es Tacitus nicht im Ansatz darum ging, ein möglichst akkurates Bild der tatsächlichen Kultur und Lebensirklichkeit der Germanen zu zeichnen.

Stattdessen machte er sich das Motiv des „Edlen Wilden“ zunutze um die Germanen seinen Lesern als ein Volk zu präsentieren, dass zwar wild, barbarisch und unzivilisert war… aber sich gleichzeitig, unberührt von den korrumpierenden Verlockungen zivilisierter Dekandenz eine gewisse „kindliche Unschuld“ bewahrt hätte, von der Tacitus römische Zeitgenossen sich eine Scheibe abschneiden könnten.

Er beschrieb die Germanen also in möglichst spektakulärer Weise, so dass sie für den zivilisierten Römer fremdartig und erschreckend wirken mussten, und schrieb ihnen gleichzeitig Tugenden und moralische Werte zu, die er seinen Lesern und Zuhörern vermitteln wollte und die in seiner eigenen Kultur seiner Ansicht nach fehlten.

Wir werden auf dieses Motiv des „Edlen Wilden“ noch später zurückkommen.

Aber selbst wenn wir Tacitus Beschreibung hier wortwörtlich Glauben schenken… er beschreibt komplett schwarz gefärbte Gesichter zur Tarnung bei nächtlichen Guerilla-Attacken.

Mit einer im Alltag oder auf dem Schlachtfeld bei Tag getragenen Gesichtsbemalung hat seine Beschreibung nichts zu tun.
Irgendwelche auffälligen geometrischen Muster oder Runen im Gesicht würden dem von ihm beschriebenen Zweck einer Tarnfärbung sogar ausdrücklich entgegenlaufen.

Und dann haben wir natürlich noch das Problem, dass Tacitus um das Jahr 100A.D. Schrieb.
Von der Schlacht von Stamford Bridge 1066A.D., die das Ende der Wikingerzeit markiert, also zeitlich genau so weit weg liegt, wie diese von unserer heutigen Zeit.
Und selbst vom Überfall auf Lindisfarne, dem Anfang der Wikingerzeit, noch gute 700 Jahre.

Es wäre absurd zu glauben, dass sich in diesem riesigen Zeitraum Moden und Bräuche im eisenzeitlichen Skandinavien nicht oder nur so wenig geändert hätten, dass Tacitus eine brauchbare Quelle für irgendetwas wäre, was man mit gutem Gewissen als „Wikinger“ bezeichnen kann.

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Dann haben wir eine zweite Quelle, die tatsächlich aus der Wikingerzeit stammt und auch den richtigen Kulturkreis beschreibt:

Den Reisebericht des Al-Tartushi.

Dieser jüdischstämmige Gesandte des Kalifen von Cordoba, der selbst aus Tortosa stammte, bereiste im 10ten Jahrhundert weite Teile Mitteleuropas und schrieb einen Bericht über das, was er gesehen und erlebt hatte.
Unter den Orten, die er bereiste, war auch die bedeutende dänische Handelsstadt Haitabu im heutigen Schleswig-Holstein.

Dort beschreibt er, dass die Einheimischen sich die Augen mit „Khol“ färben und deren natürliche Schönheit damit betonen und hervorheben würden.

Al-Tartuschis Reisebericht ist ebenfalls mit Vorsicht zu genießen.
Er ist nicht im Original erhalten, sondern nur in einem späteren Werk, dem „Buch der Königreiche und Wege“ des in Cordoba lebendenden Geografen Al-Bakri aus dem 11. Jahrhundert, der weite Teile von Al-Tartushis Reisebericht zitiert.

Al-Bakri wird heute durchaus für seinen sachlichen, wenig Aufmerksamkeit durch übertrieben spektakuläre Schilderungen und Anekdoten heischenden, Schreibstil geschätzt.

Gleichzeitig haben wir bei einigen der Werke, die er zu zitieren angibt, ältere erhaltene Originale, aus denen sich ergibt, dass seine Zitate gerne mal etwas… freier waren. Teilweise erfand er sogar ganze Textpassagen frei und gab dennoch ein geschätztes älteres Buch als Quelle an.

Als einzige Quelle für Al-Tartuschis Schilderung der Lebensweise der Bewohner von Haitabu muss ihm also mit einer gewissen Vorsicht begegnet werden.

Aber auch wenn wir Al-Tartuschis Beschreibung komplett Glauben schenken, ist einigen Leserinnen und Lesern bestimmt schon etwas aufgefallen:

„Khol“ ist nichts anderes, als „Kajal“. Lidstrich.

Ein hauchfeiner Strich auf der Innenseite der Augenlider, der die Augen einrahmt und nun so gar nichts mit fingerbreiten Streifen unter den Augen zu tun hat, die eher an moderne American-Football Spieler erinnern, oder gar mit dem breiten Waschbär-Streifen von Ohr zu Ohr über beide Augen, wie man es heute oft in der populären Darstellung von Wikingern sieht.

Die Verwendung von Khol war im arabischen Kulturraum in der Wikingerzeit sehr weit verbreitet und es ist durchaus nicht unglaubwürdig, dass einiger der Bewohner des sehr kosmopolitischen Haitabu, dessen Bewohner sich aus allen möglichen ethnischen, kulturellen und religiösen Hintergründen zusammensetzten und in dem sich ständig Kaufleute aus aller Herren Länder aufhielten, diese Mode zwischendurch übernahmen.

Das bedeutet nicht, dass irgendein drittgeborener Sohn eines kleinen Bauern in der abgelegensten Ecke Norwegens, der im 9ten Jahrhundert auf Wiking ging, weil er ohnehin keine aussicht auf ein Erbe hatte und das Leben als professioneller Seeräuber für ihn besser klang als eines als Ackerknecht seines ältesten Bruders, ebenfalls Kajal trug.

Und schon gar nicht taugt das in irgendeiner Hinsicht als Beleg für die wilden Gesichtsbemalungen, die man heute bei populären Darstellungen von „Wikingern“ immer wieder zu sehen bekommt.

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Okay, wir haben jetzt also etabliert, dass die beiden am häufigsten als Beleg für Gesichtsbemalung bei Wikingern genannten Quellen diese überhaupt nicht bestätigen.

Aber wenn das Bild des wild bemalten Wikingerkriegers nicht auf echten historischen Quellen beruht… wo kommt es denn dann her?

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Tacitus und Karl May, Nationalromantik und der Edle Wilde, Germanen und Indianer.

Ich hatte weiter oben ja schon angekündigt, dass wir uns mit dem Motiv des „edlen Wilden“ noch einmal ausgiebiger beschäftigen würden.

Tacitus Germania ist eines der bekanntesten frühen Beispiele für dieses Motiv, in dem eine scheinbar „weniger weit entwickelte“ Kultur zu „von der Zivilisation unverdorbenen“ „Naturmenschen“ verklärt wird, die sich in „kindlicher Unschuld“ einige Werte bewahrt haben, die der „weiter entwickelte“ „zivilisierte“ Mensch durch die Verlockungen der Dekadenz verloren habe.

Ehrlichkeit und Tugendhaftigkeit, Mut und Moral, Großzügigkeit und Bescheidenheit sind Werte, die dem „edlen Wilden“ immer wieder zugeschrieben werden.

In der Moderne haben wir diesem Wertekanon noch weitere, aus unserer eigenen Sicht wünschenswerte, Dinge hinzugefügt, wie „ein Leben im Einklang mit der Natur“, „eine standeslose Gesellschaft“ und „Freiheit von Sexismus oder sexueller Prüderie“ (was um so skurriler ist, weil die Römer den Germanen beispielsweise eine extrem strenge Sexualmoral angedichtet haben).

Es ist dabei nicht wichtig, dass dieses verklärte Bild nicht die geringste Ähnlichkeit mit der tatsächlichen Lebensweise, den Wertvorstellungen und der Gesellschaft der Kultur zu tun hat, die wir als Vorlage für unser Bild des „edlen Wilden“ nutzen.
Wir interessieren uns nicht für die Kultur an sich, wir missbrauchen sie lediglich als Leinwand, auf der wir ein moralisches Lehrbild zeichnen können, von Menschen, die so viel weniger fortschrittlich und zivilisiert sind als wir, aber uns dennoch wichtige Werte vermitteln können, die wir vergessen haben.

Nach Tacitus fand dieses Motiv vor Allem in der Zeit des europäischen Kolonialismus und Imperialismus wieder steigende Verbreitung.

Insbesondere die Ureinwohner Nordamerikas wurden nach ihrer grausamen Vertreibung, Enteignung und millionenfachen Ermordung sowie dem Raub ihrer kulturellen und religiösen Identität sehr rasch in Geschichten über die „edlen Wilden“ verklärt… teilweise auch schon während der gerade beschriebenen Prozesse.

Das ist genau der Grund, warum viele heutige Native Americans das romantisch verlärte Bild des Indianers extrem zwiegespalten sehen.

Auf der einen Seite werden sie wenigstens mal ausnahmsweise positiv darsgestellt, anstatt der vorherigen verbreiteten Propaganda, die sie als barbarische, gewalttätige, arbeitsfaule, dumme, alkoholabhängige, weiße Frauen entführende und vergewaltigende, grausame, wilde Monster zeichnete, die vom weißen Mann „zivilisiert“ oder als Bedrohung für den weißen Mann, seinen Besitz und seine Zivilisation aus dem Weg geräumt werden mussten.
Dieses positiv verklärte Bild lies sich politisch nutzen, um Lobbyarbeit für die Interessen der Natives zu machen (und wird bis heute zu diesem Zweck genutzt).

Gleichzeitig hat das verklärte Indianerbild, das die Weißen gezeichnet hatten, natürlich wenig bis gar nichts mit der Realität der unglaublichen Vielfalt an grundverschiedenen Kulturen nordamerikanischer Ureinwohner gemeinsam und transportiert, wie oben beschrieben, immer noch ein rassistisch-abwertendes Bild von ihnen als „weniger entwickelt“. Als „Kinder“, die doch nicht so weit auf der Entwicklung hin zum zivilisierten Menschen sind, wie die Weißen, von deren durch die Zivilisation noch unverdorbener „kindlicher Unschuld“ die Weißen aber immerhin etwas lernen könnten.

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In Europa und vor Allem in Deutschland fiel dieses verklärte Indianerbild im 19ten Jahrhundert auf extrem fruchtbaren Boden.

Im blühenden Nationalismus und in der Nationalromantik, als man die eigenen (realen wie vermeintlichen) Vorfahren verklärte und weitgehend fiktive, pseudohistorische Ursprungsmythen für die eigene Nation ersann, die der größtenteils künstlich geschaffenen nationalen Identität eine „historische“ legitimation verleihen sollten, passte das Bild vom Edlen Wilden hervorragend in den Zeitgeist.
Beriefen sich doch viele der europäischen Nationen nun nicht mehr auf das römische Imperium, sondern auf „barbarische“ Wurzeln. Römer, Kelten und natürlich Germanen, die man nun möglichst erhöhen und romantisch verklären wollte.

Gerade in Deutschland, wo die Anhänger der Nationalromantik das Gefühlt hatten, dass gerade den Deutschen der Weg zur Nation von den mächtigeren Nachbarn vorenthalten worden wäre, identifizierte man sich plötzlich sehr mit dem Bild des verklärten Indianers, in dem man nicht nur die selben Elemente des „edlen Wilden“ wiedererkannte, die ja schon Tacitus den Germanen zugeschrieben hatte (und die man natürlich gerne unkritisch als eine absoltut realistische Beschreibung der eigenen tugendhaft-edlen Vorfahren annahm), sondern der ja unter genau den selben großen europäischen Kolinalmächten gelitten hatte, von denen man sich selbst gegängelt und kleingehalten fühlte.

„Ja“, sagten privilegierte Deutsche, die sich die Schrecken des „Trail of Tears“ nicht einmal im Ansatz vorstellen konnten, aber die echt wütend über innerdeutsche Zollgrenzen und das fehlen eines starken, vereinten Deutschen Reiches waren, an das man das eigene Selbstwertgefühl koppeln konnte: „Die Indianer und wir Deutschen… wir haben im Grunde genau das selbe Schicksal geteilt.“

Karl May und seine Winnetou-Romane waren dabei nicht der Anfang der deutschen „Indianerbegeisterung“, brachten das romantisch-verklärte Indianerbild der Deutschen aber in seine heute noch verbreitetste und beliebteste Form.

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Okay… und was hat dieser Exkurs über „edle Wilde“, Nationalismus und amerikanische Ureinwohner jetzt mit Wikingern und Gesichtsbemalung zu tun?

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Nun… Die Nationalromantiker im 19ten Jahrhundert (und jene, die „fremde“ Kulturen, egal ob gegenwärtig oder vergangen, bis heute zu „edlen Wilden“ verklären) nahmen und nehmen selten jeweils nur eine einzelne Kultur und verdrehen diese so lange, bis sie als Hintergrund für die Moralfabel taugt, die man erzählen will.

Stattdessen wurden schon früh wild kreuz und quer Elemente aller möglichen verschiedenen Kulturen miteinander in einen Topf geworfen, selbst wenn diese Kulturen in der Realität nichts miteinander zu tun hatten.
Ein großer Teil der heutigen Neopaganen Ströhmungen etwa kombiniert wild „keltische“ und „germanische“ Elemente miteinander. Und selbst das, was da als „keltisch“ oder „germanisch“ bezeichnet wird, stammt oft aus einer vielzahl völlig unterschiedlicher Kulturen, die zu weit auseinanderliegenden Zeiten in völlig unterschiedlichen Ecken Europas gelebt haben und wenig gemeinsam haben, als die gemeinsame Sprachfamilie (nein, Irische Bräuche und Glaubensinhalte aus dem 9ten Jahrhundert nach Christus lassen sich nicht auf Gallien im 1ten Jahrhundert vor Christus übertragen, bloß weil beides Kelten waren. Genau so wenig, wie Germanen am Rheinufer zur römischen Kaiserzeit und Wikinger im 10ten Jahrhundert).

Und das geschah eben nicht nur bei Kulturen, die zur selben kulturellen „Sammelgruppe“ oder Sprachfamile gehörten, oder grob in der selben Weltregion lebten. Ja, nicht einmal Kontakt mussten sie miteinander gehabt haben.

So wurde beispielsweise der Begriff „Schamane“, der ursprünglich nur die Inhaber bestimmter religiöser, spiritueller und gesellschaftlicher Funktionen bei verschiedenen sibirischen Kulturen bezeichnete, auf alle möglichen anderen Kulturen übertragen, bei denen man bei extrem oberflächlicher Betrachtung ähnliche Praktiken und Vorstellungen vermutete, wie jene, die man vom verdrehten und verzerrten Bild kannte, das man sich von den sibirischen Ureinwohnern machte.

Und ebenso übertrug man eine Menge Elemente des romantisch-verklärten Indianerbildes auf das von Tacitus beschriebene verklärte Germanenbild und übertrug diesen Mischmasch dann auch auf die Wikinger, die ja irgendwie auch Germanen waren.

Leder und Felle als bevorzugtes Material für Kleidung, diverse angeblich „schamanistische“ Praktiken, die Vorstellung von Totem- oder „Krafttieren“… und eben auch die Gesischtsbemalung, für die es bei einigen indigenen Kulturen Nordamerikas tatsächlich historische Belege gibt und die in diesen Kulturen teilweise auch heute noch (oder wieder) praktiziert wird (und deren religiöse und kulturelle Bewandnis so viel komplizierter, vielschichtiger und von Kultur zu Kultur unterschiedlicher ist, als das westliche Klischeebild von „Kriegsbemalung“…).

Man fand all diese Elemente beim romantisch verklärten Indianerbild, das man kannte, toll.
Aber mit den Germanen als den eigenen (vermeintlichen) Vorfahren konnte man sich doch irgendwie leichter identifizieren.
Also übertrug man einfach alles, was man am verklärten Indianerbild mochte, auf das verklärte Germanenbild und hatte das Beste aus beiden Welten.

Tatsächlich stammt diese Übertragung allerdings leider nicht aus dem 19ten oder frühen 20sten Jahrhundert, sondern aus der zweiten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, aus einer Zeit, die viele Leser*innen dieses Blogs noch selbst miterlebt haben dürften.

Waren die Germanen bei Wagner und bei den Nazis noch glattrasiert und mit unbemaltem Gesicht (und mit bunter Kleidung aus Stoff, so pseudohistorisch sie auch aussah), stammt das Bild der Germanen mit „indianischer“ Gesichtsbemalung und „indianischer“ Fell- und Lederkleidung aus einer Zeit, als man die Germanen als Projektionsfläche für alternative Gegenkultur nutzen wollte.
Dieses pseudohistorische Germanenbild ist leider ausnahmsweise mehr Hippie als Himmler.

Aus der selben Zeit und der selben gesellschaftlichen Strömung stammen dann auch Ideen wie „germanisch-schamanistisches Runenyoga“ (nein, ernsthaft).

Auch Menschen, die eigentlich in ihren Überzeugungen und Zielen sehr progressiv sind, sind leider alles andere als gefeit davor, eine andere Kultur zum „edlen Wilden“ zu stilisieren und zu einem Zerrbild ihrer selbst zu verklären, dass dann als Projektionsfläche für eigene Wunschvorstellungen und Weltanschauungen dienen kann.

Einen zusätzlichen großen Schub dazu, dieses Bild zu popularisieren, leistete ein „historischer“ Film, der eigentlich weder Germanen noch Wikinger darstellt, sondern Schotten im beginnenden Hochmittelalter: „Braveheart“

Die bunte blaue Kriegsbemalung, die William Wallace und die Seinen in diesem Film tragen, wurde von den Filmemachern mit einem Verweis auf die Pikten erklärt… einer Kultur, die in der römischen Antike im heutigen Schottland lebte und mit den Schotten zur Zeit des Filmes nicht viel zu tun hat.

Aber schon die Bemalung, die Wallace und seine Krieger im Film tragen, hatte nur noch wenig mit den feinen Mustern zu tun, mit denen antike Pikten im 19ten und zu Beginn des 20sten Jahrhunderts oft bemalt gezeigt worden waren… und sehr viel mehr mit der Klischeehaften „Kriegsbemalung“, wie wir sie aus dem populären, verklärten Indianerbild kennen.

Tatsächlich baut die Art, wie „Braveheart“ den Konflikt zwischen Schottland und England darstellt, massiv auf dem Klischee des „edlen Wilden“ auf:
Aus genau diesem Grund tragen die Schotten nicht so ziemlich die selbe Kleidung, Rüstung und Waffen, wie die Engländer, sondern werden in irgendeiner Fantasieversion von Belted Plaids dargestellt (die eigentlich aus einer deutlich späteren Zeit stammen, aber für das heutige Publikum deutlich „primitiver“ aussehen), mit entweder gar keiner Körperpanzerung oder irgendwelchen Lederrüstungen und mit improvisierten Piken aus zugespitzten Holzstämmen.
Und aus genau diesem Grund treten die Engländer in einer pseudohistorischen „Uniform“ aus einheitlichen Rüstungen und Waffenröcken auf.
Es soll das Motiv einer „primitiven“ aber moralisch überlegenen Kultur bedient werden, die sich gegen einen technologisch und zivilisatorisch viel „weiter entwickelten“ aber moralisch korrupten Gegner behauptet.

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Fazit:

Das moderne Bild von Gesichtsbemalung bei Wikingern oder Germanen ist pseudohistorisch.
Die Quellen, die regelmäßig dafür vorgebracht werden, sind unzuverlässig und bezeugen zudem etwas völlig anderes.

Stattdessen stammt diese Praxis von einigen Kulturen der nordamerikanischen Ureinwohner und wurde auf die Germanen (und damit auch auf die Wikinger) übertragen, weil man beide Kulturen gleichermaßen als edle Wilde verklärte und ähnliche Wunschvorstellungen und Werte auf dieses verklärte Bild übertrug.

Dieser Blogpost versteht sich nicht als Verurteilung von heutigen Filmen, Videospielen, sonstigen Medien oder Fantasy-Darstellungen, die dieses und ähnliche Merkmale des Klischees vom „Edlen Wilden“ bedienen.
Er ist lediglich zur Aufklärung gedacht, damit die Leser*innen wissen, wo dieses Klischee herkommt, und dann selbst entscheiden können, was sie aus diesem Wissen machen.

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Weiterführende Informationen:

Über das Motiv des Edlen Wilden und seine historische Entwicklung:
https://de.wikipedia.org/wiki/Edler_Wilder

Allgemein über die Problematik, Kulturen als „weiter entwickelt“ oder „weniger weit entwickelt“, mehr oder weniger „zivilisiert“ zu klassifizieren:
https://inforo1300.wordpress.com/2023/08/16/von-zivilisierten-und-weniger-zivilisierten-kulturen-und-warum-wir-diese-unterscheidung-nicht-mehr-machen/

Über die vermeintlichen Quellen für wikingerzeitliche Gesichtsbemalung:
https://youtu.be/EwXC-dr2bVU?si=sCC73yvCGwaoZG1D

Warum ich hier den Begriff Indianer verwende, nicht in der Art wie der starrköpfige Deutsche, der darauf beharrt, weiter einen rassistischen Schimpfbegriff für ein Paprikaschnitzel zu verwenden, weil er das schon immer so gemacht hat, sondern in echter Absicht, möglichst wenige Leute mit meinen Worten zu verletzen:
https://youtu.be/kh88fVP2FWQ

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